Plenarrede zur Friedenslösung für Bergkarabach
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Der Konflikt in Bergkarabach existiert seit Jahrzehnten. Seit Jahrzehnten gibt es keine ernsthafte Annäherung zwischen Armenien und Aserbaidschan, und seit Jahrzehnten beschäftigt sich die internationale Gemeinschaft erfolglos mit diesem Konflikt. Seit einem Monat hat dieser Konflikt eine neue Phase erreicht.
Seit einem Monat kommt es zu blutigen Kämpfen im Südkaukasus. Seit einem Monat sterben wieder unschuldige Menschen in dieser Region. Es herrscht Krieg. Bei diesem Krieg handelt es sich nicht um einen Stellvertreterkrieg zwischen Russland und der Türkei. Es geht auch nicht um einen Konflikt zwischen Moslems und Christen. Dieser Krieg ist viel komplexer. Wer denkt, man könne hier mit militärischer Gewalt nachhaltig Fakten schaffen, der liegt falsch.
Die zunehmende militärische Eskalation führt lediglich zu einer Veränderung der Fronten. Sie fördert den Hass, und sie treibt das Leid der Menschen ins Unermessliche. Fest steht, dass es nur eine politische Lösung geben kann. Es führt kein Weg an einer Rückkehr an den Verhandlungstisch vorbei. Das ist die einzige Option, und es wird Zeit, dass sowohl die beiden direkten Konfliktparteien als auch die anderen Akteure dies begreifen, meine Damen und Herren.
Wenn ich von den anderen Akteuren spreche, dann meine ich an dieser Stelle insbesondere die Türkei. Natürlich hat Ankara legitime Sicherheitsinteressen – das ist eine andere Debatte –; doch das gegenwärtige Gebaren des türkischen Präsidenten Erdogan hat wahrlich wenig mit den Interessen der Türkei zu tun. Sein aggressives außenpolitisches Auftreten dient einzig und allein einem Zweck: abzulenken von den innenpolitischen Problemen und Schwierigkeiten in der Türkei.Der Scherbenhaufen, den er dabei hinterlässt, wird immer größer. Eine Rückkehr zu normalen partnerschaftlichen Beziehungen rückt mit jeder weiteren Provokation in weite Ferne.
Meine Damen und Herren, im Jahr 2016 verabschiedete der Deutsche Bundestag eine Resolution, mit der die Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich in den Jahren 1915/1916 offiziell als Völkermord eingestuft wurden. Es war und es ist gut, dass der Deutsche Bundestag damals diese Entscheidung getroffen hat. Aus diesem Völkermord erwächst eine historische Verantwortung. Viele Armenierinnen und Armenier leben bis heute weltweit im Exil. Die Angst vor einem zweiten Genozid in diesem Konflikt ist erdrückend. Sie ist allgegenwärtig. Auch die Türkei muss dieser Realität gerecht werden. Auch die Türkei muss aus dieser historischen Verantwortung heraus ihre Rolle im Konflikt um Bergkarabach und grundsätzlich gegen Armenien überdenken, meine Damen und Herren.
Wenn wir in diesem Zusammenhang über die Türkei reden, so müssen wir auch einen Blick auf Russland werfen. Moskau ist einmal mehr ein wichtiger Akteur. Natürlich ist klar, dass Präsident Putin nicht an einem Flächenbrand im Südkaukasus interessiert ist. Wirtschaftliche Beziehungen pflegt Moskau außerdem mit beiden Konfliktparteien; doch nur mit Armenien besteht ein Verteidigungsabkommen. Inwieweit Moskau, die eigentliche Schutzmacht Armeniens, bereit ist, zu intervenieren, ist fraglich. Der prowestliche Kurs des armenischen Regierungschefs in den vergangenen Jahren dürfte Putin jedenfalls nicht gefallen haben.
In diesem Krieg gibt es kein Schwarz und Weiß. Er hat auf beiden Seiten bislang unzählige Opfer gefordert, Menschen aus ihrer Heimat vertrieben, ihre Existenzen zerstört. Worauf es jetzt neben einem sofortigen Waffenstillstand ankommt, ist die humanitäre Nothilfe. Den Hilfskräften muss uneingeschränkter Zugang zu Bergkarabach ermöglicht werden. Das Leid der Menschen muss gelindert werden.
Meine Damen und Herren, ich sage es ganz klar: Sollten sich die Berichte über den Einsatz verbotener Streumunition durch Aserbaidschan bestätigen, so muss auch die internationale Gemeinschaft ganz klar Stellung beziehen, Herr Minister.
Dieser Krieg führt einmal mehr eindringlich vor Augen, dass sich die Konflikte unseres Zeitalters nicht aussitzen lassen, nicht in Syrien, nicht in Libyen und auch nicht in Bergkarabach. Wieder einmal hat die EU geschlafen, wieder einmal hat sie anderen das Spielfeld überlassen. Das Vakuum füllen einmal mehr Russland, der Iran und die Türkei. Die Bundesregierung und die europäischen Partner sollten dringend die entsprechenden Lehren aus der Eskalation in Bergkarabach ziehen. Sie sollten ihre Arbeit und ihre Rolle innerhalb der OSZE dringend evaluieren, und sie sollten endlich Verantwortung im Rahmen einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik übernehmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit